Riptide

Er fand sich eindeutig zu oft im Büro der Direktorin wieder… Die sich nun über ihren riesigen Schreibtisch beugte und auffordernd seinen Blick suchte. „So what do we say?“ Für wie alt hielt sie ihn? Fünf? Der Neunjährige funkelte sie aus tsunami-grauen Augen an, ehe er zu dem älteren Schüler blickte. „You deserved it. And if you ever push my sis again, next time it‘s gonna hurt even more!“ Sicher nicht das, wozu die Direktorin ihn gerade aufgefordert hatte. Aber das, was er fühlte. Leviathan leckte sich über die aufgeplatzte Lippe. Irritierenderweise mochte den leicht metallischen Geschmack. Es pisste ihn nur an, dass es sein Blut war.
Der andere Junge sah kurz so aus, als würde er zurückzicken wollen, blickte dann jedoch stattdessen schleimerhaft zur Direktorin. „I already said it was an accident.“ „So my fist meeting your giant nose was an accident, too“, konnte Levi es sich nicht verkneifen.

Die Direktorin schickte den anderen, der immer noch Taschentücher in den Nasenlöchern hatte, raus und zur Krankenschwester. Dann fokussierte sie sich wieder auf den Problemfall. „I know you only wanted to protect your little sister. But that‘s not how we handle things here.“ Ihre weiteren Worte zogen geradezu an ihm vorbei. Ja, er passte immer auf Lily auf. Aber… war das wirklich schon alles? Hatte er sich nicht einfach nur prügeln wollen und das beiläufige Anrempeln als guten Grund empfunden?
Irgendwann griff die Direktorin nach dem Telefonhörer und rief seine Mutter an. Sie sprach mit gedämpfter Stimme, aber Leviathan konnte alles hören. Sogar die Antworten seiner Mom. Er verstand nie, wieso andere Menschen so… schwerhörig waren. Anfangs hatte er noch geglaubt, das sei ein Erwachsenending. Aber auch seine Mitschüler bekamen so viel weniger mit als er. Taub. Blind. Weitaus weniger reizüberflutet…
Seine Mutter betonte, dass sie nichts dafür konnte, dass er so war. Dass jede Erziehungsmaßnahme nicht fruchten würde, weil er dafür zu sehr Seamonster wie sein Vater war. Woraufhin die Direktorin versuchte ihr zu verklickern, dass es für die gesunde Entwicklung eines Kindes nicht gut war vom männlichen Elternteil als Ungeheuer zu sprechen.

Leviathan rutschte derweil heimlich, still und leise von der Strafbank und linste aus dem Fenster. Seine Klasse befand sich gerade auf dem Weg über den Pausenhof zum Kunstraum. Handwerken ging ja noch, aber mit Bildchen malen konnte er nun wirklich nichts anfangen.
Die Direktorin räusperte sich und erklärte ihm, dass er für heute Nachhause geschickt werden würde. Ja, klar. Als würde er dort hin wollen. Noch viel weniger als in die Schule. Heute hatte sein Stiefvater keine Schicht. Der würde nur wieder lauthals verkünden, dass Leviathan nicht ins Bilderbuch dieser idyllischen Familie passte.

Trotzdem nickte er. Und verließ das Büro. Natürlich ohne Reue zu verkünden. Aber anstatt das Schulgelände sofort zu verlassen, eilte er über den Hof. Der Ton seiner Augen schwappte zu einem hellen Südseeblau, vielleicht mit ein paar frechen grünen Spritzern, als er sie erblickte. Beinahe sicher, dass sie sich bereits suchend nach ihm umgesehen hatte.
Kurz bevor das Mädchen mit der lockigen Mähne ins Gebäude verschwinden konnte, schnappte er sich ihre Hand und zog sie um die Ecke des Hauses. „Pssht, it‘s me.“ Die Wut glättete sich wie die Wellen nach einem verflogenen Sturm über dem Meer, als er unverhohlen zu ihr runter grinste. Die dunklen Haare zerzaust, die Lippe geschwollen, der Kragen seines Shirts leicht eingerissen und ein Loch auf Kniehöhe seiner Jeans. „Let‘s skip the drawing and head to the sea.“ Zum Meer. Immer zum Meer.
Gut, Clover mochte nicht für den Rest des Tages suspendiert worden sein, aber… egal? Und, nur um das mal festzuhalten: „The other one looks way worse! And he was bigger than me!“ Mit einer Hand ein Stück über seinem Kopf andeutend. Gleichaltrige waren keine Herausforderung. Er war der Größte in der Klasse. Und somit zumindest auch definitiv größer als die Mädchen. Was bei einigen Jungs in dem Alter noch so gar nicht klappen wollte.