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Geschrieben 09-04-2024, 09:53 AM by: Fips
Wie sehr hatte Charles die Annehmlichkeiten genossen, die moderne Standortwechsel so mit sich brachten: Inlandsflüge beispielsweise. Wie schnell und bequem es sich doch aus der einen und direkt in eine gänzliche neue Metropole einblenden ließ, ohne, dass jemand Verdacht schöpfte. Wie angenehm, all die Bequemlichkeiten zu genießen, gar nicht erst Fußmärsche auf sich zu nehmen oder Wägen zu mieten. Dinge zuvor neuerdings einfach online zu buchen und sich direkt wie zuhause zu fühlen. Es war erschreckend, aber gleichzeitig faszinierend. Und doch.. doch war es anders, seither er durch diesen doch willkommenen Zufall, wenn er es so nennen wollte, plötzlich eine ungeahnte Gesellschaft an seiner Seite hatte. Eine, die genau diese langen Wege, die Distanzen, die zwischen vielen großen Städten lagen, genoss und Strecken zu schätzen wusste, wie auch die Ruhe, Abgeschiedenheit, die sie oft mit sich brachten. Charles betrachtete all das mit gemischten Gefühlen. Sehr gemischten Gefühlen, um ehrlich zu sein. Durch die Wildnis zu wandern, hinterließ einen sehr schalen Geschmack auf der blutlüsternen Zunge des Vampirs.
Ehre den Anfängen hieß es ja gern einmal, und gewiss tat der Unsterbliche genau das, wenn man in die Rechnung denjenigen einbezog, der ihn auflas wie ein angefahrenes, verlaustes und halb totes Kätzchen am Straßenrand. Es mochte hämisch klingen und doch lag die Wahrheit nicht allzu weit von dort entfernt. Es war die Wildnis, in der sich Charles vor so vielen Jahren, Jahrzehnten, sogar Jahrhunderten wiederfand und wäre Nikolaij, ausgerechnet ein Dämon, der Erbarmen zeigte, nicht gewesen.. wäre er qualvoll verdurstet oder nicht lang darauf im gleißenden Sonnenlicht verbrannt. Er wurde angekratzt, zum Sterben in offener Wildnis zurückgelassen, verlassen und hatte sich überdies massiv verschätzt. Selbstüberschätzung war nun nichts, was er sich nicht vielleicht sogar heute noch auf die Fahne schreiben könnte. Doch Charles neigte dazu, diesen Teil seines Daseins auszublenden, ihn weit, weit von sich zu schieben wie ein längst vergessenes Leben, an das es sich nicht lohnte, überhaupt einen weiteren Gedanken zu verschwenden. Weil es besser war, nicht über solcherlei nachzudenken und sich darüber zu grämen, was doch ohnehin längst geschehen und verjährt war wie eine alte Tageszeitung von vorvorgestern, nichts weiter als eine Fußnote, ein altes Relikt der Vergangenheit.
Natürlich konnte er ihr jedoch nicht immer seinen Willen aufzwingen, schließlich, neben ihrer Rolle als geborener Lockvogel, erwartete er noch großes von ihr. Nicht heute, nicht morgen, aber.. die Zeit würde es noch zeigen. Möglich, dass dieses Privileg, das ihm noch zuteil würde, zuvor auch kleine Opfer seitens des Vampirs einforderte. Die Natur war nun, aus Gründen, nicht sein präferiertes Gebiet. Um ehrlich zu sein, wirkte er hier auch mindestens so deplatziert wie in einer Jugenddiskothek. Auch, wenn Vampire sich durch Zähigkeit, Ausdauer und stärke hervor taten, genoss auch Charles die Vorzüge eines Rollkoffers. Diese Vorzüge würden sie auch bald wieder genießen dürfen.. bald. So wie ebenso den Zugang zu diesem Internet, vier Wänden um sie herum, einem Haufen nur zu ergebener Beute, das sich bereitwillig aussaugen ließ, ohne bis zuletzt zu ahnen, in welch fatale, tödliche Falle sie getappt war und nicht zuletzt einer guten, heißen Dusche. Nur, weil man bereits untot war, bedeutete es ja schließlich nicht, sich nicht auch nach wie vor zu pflegen. Und Charles konnte auch darin hin und wieder beeindruckend ausdauernd sein!
Eine ganze Weile kam kein einziges Wort seitens des deutlich älteren des Gespanns hier inmitten des riesigen Waldareals. Geduldig hatte er ihren Worten gelauscht, sie weder verteufelt, noch gestraft oder als hanebüchen abgetan. Nicht einmal sein stoisches Mienenspiel ließ auf seine Gedanken oder Gefühle schließen. Im Grunde filterte er beständig Wichtiges von Unwichtigem: den Geräuschen der Flora und Fauna in der näheren Umgebung, dem seichten Plätschern eines Flüsschens, das gar nicht so weit von ihnen weg säuselte. Ihrem Eigengeruch, der ihm ganz subtil vermittelte, dass sie aktuell blutete, wie die Frauenwelt es zu gegebener Zeit hin und wieder tat. Es irritierte ihn. Und belastete ihn. Aus gleich zweierlei Punkten. Erstens: sie war sein Besitz. Auch, wenn er zuweilen gern mit eigenem Besitz prahlte, war sie am Ende dennoch nur ein Mensch. Sie war kein wertvoller Chronograph, den man bei Zeiten einfach fort legen und in ein gut behütetes Kistchen legen konnte. Sie war ein lebendiges Wesen. Mit Bedürfnissen und allem, was dazu gehörte. Und als solches bereits per se ein wunder Punkt, denn die Stärke, Agilität und Rücksichtslosigkeit, wie ebenso diese Regenerationsfähigkeit und damit nahezu Unverwundbarkeit, die ihm wie selbstredend innewohnten, fehlten ihr noch nahezu komplett. Folglich musste er sie schützen, bis sich diese zarten Blüten öffneten und er den Lohn davontragen würde. Und zweitens: es erregte ihn. Normalerweise ging er mit all diesen zusätzlichen Reizen sehr pragmatisch um, in denen er ihnen einfach auswich, bis die Gefahr vorüber war. Nicht selten, dass er zufällig genau in diesen Tagen verschwand, anderweitiger Jagd nachging, um sich nicht mit den eigenen Emotionen auseinandersetzen zu müssen, die dieses hübsche, junge, blutende, magisch bewanderte Wesen in der Blüte ihrer Fraulichkeit in ihm auslöste. Charles mangelte es nun sicher nicht an Konfrontationsfreudigkeit, aber das hier.. das war etwas anderes. Das hier schien ein schier unbezwingbarer Gegner.
Ferner lauschte er den Geräuschen ihrer eigenen Schritte zwischen Gras, Torf, Moos, trockenem Geäst und gefallenen Blättern, die mehr und mehr auf dem Boden rotteten und mit der vorherrschenden Luftfeuchtigkeit diese typischen Gerüche verströmten, die moderne Duschgelfabrikanten gern mal als Inspiration nahmen, indem sie ihre Produkte 'Waldfrische' und dergleichen nannten, mit ihrer erschlagend chemischen Realität zwischen Axe und Davidoff aber rein gar nichts mit diesem holzig-moosig-modrigem Ursprung gemein hatten. Dämonen waren nun das nächste Thema. Charles spitzte die Ohren, blieb aber weiterhin still. Ah, dieser kleine, feine Stich, den ihm allein dieses so unscheinbare Wörtchen aus dem Munde dieser glockenhellen Stimme derweil doch ins kalte, leblose Herz versetzte. Sich dort hinein bohrte wie ein tiefer, wohl gesetzter Nadelstich. Der Vampir beobachtete schweigsam, wie sie von dem dicken, moosbewachsenen Stamm herunter sprang, schließlich vor ihm stehen blieb und ihn erwartungsvoll ansah, als läge die Lösung all ihrer fiktiv erschaffenen Probleme einzig in seiner noch nicht verkündeten Antwort verborgen.
„Wen hältst du hier für den barmherzigen Samariter? Mich oder den Dämon?“ ließ er schließlich ziemlich nüchtern von sich hören.
„Was soll der Dämon denn deiner Meinung nach tun? Brav abwarten, das Seziermesser heraus holen und das pupstrockene Fleisch auf die Leine hängen, damit es nochmal nachdörren kann?“ Ernst gemeinte Rückfrage? Konnte sie sich ganz sicher spielend leicht selbst beantworten. Vielleicht, vielleicht war er ein ganz bisschen gereizt. Aufgebracht, den Umständen geschuldet, mit denen er sich konfrontiert sah und ihnen nicht entkommen konnte, wie er es sonst gerne tat, wenn sie ihre blutigen Tage hatte. Damit er eben nicht unbedacht sarkastisch antwortete, ihr damit zu nahe träte und sich am Ende nicht nur Blut, das unantastbar war, sondern auch noch Tränen, die zu trocknen wären, aufbürdete. Wie gerne hätte er sich gerade jetzt ein paar Tage abgesetzt, bis der Ärger überstanden war. Bis.. sie ihn eben nicht mehr in dieser Hinsicht so deutlich irritierte. Jetzt aber waren sie mitten auf dem Weg, er konnte sie nicht alleine lassen. Selbstbeherrschung, reine Selbstbeherrschung, war doch immer ein sehr kostbares Gut.
„Wie kommst du überhaupt darauf? Hast du Hunger?“ lieber mal sogleich sorgsam ausgelotet.
„Gut, dann.. lass uns Rast machen und ein Lager aufschlagen. Wir werden nahe des Bachlaufs bleiben.“ Das angenehme, plätschernde Säuseln und der morastige Geruch eben dort würde ihn vielleicht wenigstens in der Nacht genügend ablenken. Die Voraussetzungen dafür standen recht gut, denn dieses kleine Gebilde aus lediglich zwei Stangen und so dünnen Wänden, dass sie doch eigentlich eher ein Trugbild von Sicherheit versprachen, das höchstens gegen Regen abschirmte, war immerhin luftig genug, dass er sich wenigstens nicht völlig isoliert auf engstem Raum mit dem jungen, weiblichen Schützling sah. Wobei er sowieso nicht die ganze Nacht an ihrer Seite weilen würde. Ihr ein Frühstück zu jagen, dabei aber in der Nähe zu bleiben, versprach ihm die weitaus lohnenswerte Alternative zu sein.